Die gottlose Republik

Nach all dem Enthusiasmus, Durchhalten und Durchleiden in den Jahren des Krieges mußte man sein Ende nun wie ein Gottesgericht empfunden haben. Man spürt etwas von dem Entsetzen und der Katastrophenstimmung angesichts der hereingebrochenen Veränderungen aus dem Rückblick, mit dem die Chronik des Kindergottesdienstes das Jahr 1918 beschließt: "Ein Jahr voll Kampf und Not für unser liebes deutsches Vaterland liegt hinter uns. Was geschehen ist, hätten wir noch vor einem Jahr nicht für möglich gehalten. Der Krieg verloren, der Kaiser abgesetzt, dahin die Herrlichkeit des Deutschen Reiches. Noch ist der Friede nicht geschaffen, noch wissen wir nicht, welche Lasten, welche Demütigungen er uns bringen wird. Die neue Regierung hat als eine ihrer ersten Maßnahmen die Trennung von Staat und Kirche beschlossen. Man will die Religion abschaffen, herausreißen aus dem Herzen unseres Volkes". Der Versailler Vertrag mit seinen gewaltigen Reparationsforderungen und dem "Kriegsschuldartikel", durch den das Deutsche Reich seine Urheberschaft am Krieg und die Haftung aller daraus folgenden Schäden anzuerkennen hatte, überstieg noch alle düsteren Befürchtungen. Und natürlich wurde die eben gebildete Republik, die zunächst ja nur die ihr hinterlassene Bürde zu übernehmen hatte, für das Desaster verantwortlich gemacht. Die für den Verlauf und Ausgang des Krieges verantwortliche Generalität verstand es, sich im Hintergrund zu halten.
Für die protestantische Kirche war mit der Abdankung des Kaisers und Königs von Preußen ihre mächtigste Schutzmacht weggebrochen. Über Jahrhunderte waren die Landesherren in den protestantischen Ländern Deutschlands zugleich auch die oberste Kircheninstanz, von deren Wohl und Wehe das Gedeihen der Kirche unmittelbar abhing. Durch die Trennung von Kirche und Staat verpflichtete nun die Weimarer Verfassung den Staat zu strikter Neutralität in weltanschaulicher Hinsicht und garantierte allen Bürgern Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie ungehinderte Religionsausübung. An der Basis, in den monarchistisch und national gesinnten Kirchengemeinden wie Emmaus eine war, konnte sich das nicht anders lesen als "man will die Religion abschaffen". Und im ersten Artikel dieser Verfassung war es ja deutlich zu lesen: "Alle Macht geht vom Volke aus". Also von Menschen und nicht von Gott!
Obwohl die Weimarer Republik der protestantischen Kirche letztlich viele Rechte und eine Eigenständigkeit bescherte, die sie so zuvor gar nicht hatte, kam man aus dieser grundsätzlichen Abwehrhaltung nie heraus, auch wenn man sich später zu einer gewissen Loyalität durchrang.

Kinderbewirtung

Kinderbewirtung durch Herrn Ganse in seinem Café in der Wiener Straße, Weihnachten 1920

In Emmaus bedeutete das: Man gedachte nach wie vor der kaiserlichen Geburtstage und ließ beim Ableben der Kaiserin im Januar 1921 Trauergeläut vom Kirchturm erschallen. Als dagegen im Februar 1925 der Sozialdemokrat und erste Reichstagspräsident der Weimarer Republik, Friedrich Ebert, starb, war an dessen Beerdigungstag "mit Zustimmung der Mehrheit des GKR nicht geläutet worden".
Einen wichtigen Grund für diese Unversöhnlichkeit lieferte der Anfang der zwanziger Jahre ausgebrochene "Schulstreit". Die linken Parteien wollten mehrheitlich die Konfessionsschulen abschaffen und nur noch weltliche Schulen zulassen, aus denen der Religionsunterricht als Pflichtfach verschwinden sollte. Dagegen liefen die Kirchen Sturm. Die während dieser Zeit in Emmaus gegründeten Evangelischen Elternbünde betrieben eine von der Gemeinde finanziell und ideell unterstützte lebhafte Gegenagitation in allen Bevölkerungsschichten. Das Ganze wurde zu einer Existenzfrage der Kirche hochstilisiert. Und man hatte Erfolg. Auch kommunistische und sozialdemokratisch eingestellte Eltern wollten die christlichen Schulen beibehalten wissen. Bei den Elternbundswahlen 1922 erhielt die christlich-unpolitische Liste in Emmaus 53 Sitze und die vereinigte Liste der SPD, USPD und KPD nur 28 Sitze.
Nur unter großen Anstrengungen konnte die Emmaus-Gemeinde ihre Kriegerehrung ins Werk setzen. Angesichts der schweren Krisenzeiten waren die Ehrentafeln für die Gefallenen nicht ganz so prächtig ausgefallen, wie man gewünscht hatte. Mit einer Feier, die "einen tiefgreifenden Eindruck" gemacht hatte, waren sie am 2. Oktober 1921, dem Erntedanksonntag, geweiht worden.
Es herrschte Mangel allenthalben. Die Kinder blieben aus dem Kindergottesdienst weg, sie "froren in der ungeheizten Kirche, es fehlte ihnen zum Teil an warmen Sachen und Stiefeln". Man mußte den staatlichen Stellen zugestehen: "Es wird viel für die Kindernot getan, man schickt sie aufs Land und in Heilstätten. Für uns jedoch nicht von Vorteil, die Kinder fehlen, gewöhnen sich auch wohl das treue Kommen ab."

Obdachlose

Obdachlose vor einem Städtischen Asyl im Bezirk Prenzlauer Berg um 1920

Es gab 1922 eine Reihe von Diebstählen in der Emmaus-Kirche und auf dem Friedhof. Das jämmerliche Diebesgut - eine Tischdecke, eine Gardine, Abflußrohre und eine Wasseruhr - belegen das Ausmaß der Not. Die Friedhofsarbeiter streikten um höhere Löhne und wurden sofort entlassen. Der GKR von Emmaus hatte während des Krieges in patriotischer Pflichterfüllung zahlreiche Kriegsanleihen aufgenommen, zumeist aus Geldern der Armen- und Krankenkasse. Im März 1917 waren an die Stadt Neukölln zwei Streifen Friedhofsland günstig verkauft worden. Auch die Hälfte dieser Einnahmen ging in Kriegsanleihen. All dieses Geld war nun verloren, ebenso wie das Kapital aus Grabpflegelegaten und Schenkungen.
Die Gebühren für Amtshandlungen erhöhten sich in grotesken Dimensionen, zum Beispiel im Herbst 1923 bei Trauungen für "Legen der Läufer 1 Milliarde, Glockenläuten 3 Milliarden" usw. Man verkaufte alles nur Entbehrliche: Altmessing aus der Kirche, nicht mehr benötigte Gasrohre aus dem Turm. Im November 1923 wurde sogar die Altarbibel verpfändet.
Bethanien richtete eine Volksküche ein, für die die Jugendvereine von Emmaus an drei Adventssonntagen Geld sammelten. Man hatte größte Mühe, genügend Kisten und Kartons für das gesammelte wertlose Papiergeld aufzutreiben. Im Januar 1924 eröffnet die Emmaus-Gemeinde eine eigene Wärmestube, verbunden mit einer Volksspeisung. Die Mittel zum Unterhalt kommen von privaten Spendern und vom Evangelischen Hauptwohlfahrtsamt Kreuzberg. Und natürlich sind es wieder die Mitglieder der Frauenvereine, die "aufopfernd" helfen und die Arbeit leisten. Im Februar 1924 - die neue Rentenmark war inzwischen eingeführt - sind die Gehälter der Kirchenbeamten nicht mehr gesichert. Aber es gab auch Positives: Ab Januar 1919 richtete die Gemeinde eine soziale Beratungsstelle ein, die von einer Frau geleitet wurde. An einem Tag in der Woche konnte man hier unentgeltlich Rat in sozialen Angelegenheiten einholen. Endlich konnten Frauen aus ihrer nur dienenden Rolle heraustreten und Verantwortung übernehmen, wenn auch nur zaghaft und längst nicht ihrer Zahl in der Gemeinde angemessen: Nach den neuen Verordnungen zur Kirchenwahl vom Januar 1921 erhielten Frauen erstmals das aktive und passive Wahlrecht. Das heißt, sie durften wählen und gewählt werden. Dies wurde von den Gemeinden allgemein "mit großer Freude und lebhaften Hoffnungen begrüßt". Die Emmaus-Gemeinde hatte damals 35.000 Gemeindeglieder. An der Wahl beteiligten sich 1.668 Personen, davon waren 659 Männer und 1.009 Frauen. Mit 6,2 % hatte Emmaus allerdings die niedrigste Wahlbeteiligung des Kirchenkreises. Die genaue Anzahl der gewählten Frauen ist nicht zu ermitteln. Aber sie waren in beträchtlicher Zahl in der Gemeindevertretung präsent und hatten auch einige Sitze im Gemeindekirchenrat erobert.

 

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