ECCE HOMO
die Predigten zur Fotoausstellung

"Weh euch, Gesetzeslehrern und Pharisäern! Ihr Scheinheiligen! Ihr versperrt den Zugang zur neuen Welt Gottes vor den Menschen. Ihr selbst kommt nicht hinein, und ihr hindert alle, die hineinwollen .... "

 

Predigt über Matthäus 23,13
von Matthias Kurzer

In der Mitte des Raumes standen drei Personen, zwei Frauen und ein Mann. Die drei stellten ein Standbild dar, die Skulptur einer Familie, eine alleinerziehende Mutter und ihre zwei Kinder. Ich war Beobachter dieser Skulpturarbeit, die ein Kollege von mir, Familienhelfer wie ich, in unserer Supervisionsgruppe inszeniert hatte, um uns die Beziehungsdynamik einer von ihm betreuten Familie und seine Rolle in dieser Familie zu veranschaulichen.
Mir als einem der Außenbetrachter fiel sofort die Rolle auf, die eines der beiden Kinder, ein 9-jähriger Junge, in dieser Skulptur innehatte. Er war mit einer Armeslänge Distanz zu seiner Mutter postiert, die ohne ein Zeichen der Zuwendung über ihn hinwegblickte. Seine zur Mutter gerichtete Haltung drückte einerseits die Bitte um Zuwendung und andererseits Enttäuschung über ihre Ablehnung aus; zudem war die klare und neidvolle Distanz zu seiner Schwester deutlich ablesbar, die dicht und behütet bei der Mutter stand. In seinen Empfindungen und Gefühlen verrenkt& 147; nahm der Darsteller dieses Jungen eine sehr unbequeme Haltung ein. Der Junge war das Kind eines ungeliebten Mannes, war schlecht in der Schule und es leid, ständig auf seine kleine 5-jährige Schwester aufzupassen oder im Haushalt zu helfen; er erfüllte sozusagen nicht die Aufträge seiner beruflich und familiär völlig überforderten Mutter.
Ein Standardfall, sicher, aber, wenn man ihn so vor Augen geführt bekommt, dann berührt er einen, und mich berührte dieser Junge. Ich konnte mir gut vorstellen, bei ihm zu stehen, ihm den Rücken zu stärken. Er war Teil einer Skulptur menschlicher Beziehungen, Haltungen und Empfindungen, voller Brüche, Bedürftigkeiten und Verrenkungen - festgehalten und nachgespürt in einer Momentaufnahme.
Das Foto Der Wehruf& 147; von Elisabeth Ohlson wirkt auf mich ebenfalls wie eine Skulptur, wie ein eingefrorenes& 147; Standbild: Jesus inmitten von Lederfrauen und Ledermännern. Leder, Ketten, Nieten, Tattoos, diese Insignien der Frauen und Männer der Leder- und SM-Szene symbolisieren deren besondere Regeln, ihre Härte, ihre Beziehungs-Spielarten von Macht und Unterwerfung. Entgegen diesen Zuschreibungen drücken Haltung und Habitus dieser Frauen und Männer jedoch Bitte, Bedürftigkeit, oder Suche nach Geborgenheit aus. Jesus ist die Mitte dieser Gruppe, sie ist auf ihn ausgerichtet, untereinander erscheinen die Protagonisten beziehungslos.
Jesus steht aufrecht inmitten dieser knienden, gebeugten oder sitzenden Frauen und Männer. Er ist allein schon wegen dieser Differenz in Haltung und Habitus nicht - wie auf vielen anderen Bildern der Ecce Homo-Reihe - in die Menschengruppen integriert. Hinzu kommen das Weiß seines Gewandes und dessen fließende Falten, wodurch eine Weichheit gegenüber der Strenge der eng anliegenden, schwarzen Lederkluft gezeichnet wird. Es ist das Bild eines anderen Meisters& 147;, an dem sich der Sklave wirklich bergen kann und an dem auch dessen Herr sich anlehnen kann.
Auf den ersten Blick meint man im Unterschied zu vielen anderen Motiven der Ecce Homo-Reihe keinen konkreten Bezug zu einer Szene in den Evangelien zu erkennen, wie dies die Bilder der Taufe, des Abendmahls oder der Verkündigung bieten. Durch den blauen Hintergrund des Himmels wird die Darstellung in eine Sphäre des Abgehobenseins, des Nicht-von-dieser-Welt-Seins gesteigert. Durch das Detail der Inszenierung auf dem Felsengestein ist dieses Bild Ohlsons damit in der Gestaltung an klassische Verklärungsdarstellungen Jesu aus der Renaissance angelehnt und scheint seine szenische Vorlage am ehesten aus diesem Motiv nach Markus 9 zu beziehen. Dort wird erzählt, wie Jesus mit drei Jüngern auf den Berg steigt, dort Mose sowie Elia begegnet und in einer Himmelsvision als Gottes Sohn offenbart und zu himmlischer Gestalt gewandelt wird.
Die Verbindung zum Wehruf nach Matthäus 23,13 mag dann darin liegen, daß Jesu einladende und segnende Haltung, ja die ganze himmlische Komposition des Bildes als Verheißung des Himmelreiches für diese Frauen und Männer der Lederszene zu lesen ist, die im Kontrast dazu in ihrem Outfit eben noch ganz irdisch der Realität verhaftet sind. Das Reich der Himmel, verheißen in der Weise einer verklärenden Vision, die denen vorgehalten wird, die die homosexuelle Lebensweise in welcher Form auch immer verdammen, verurteilen und für gottesfern halten.
Visionen sind Momentaufnahmen, die aus dem Alltag entrücken. Sie haben oft etwas Wunderschönes an sich für die, die sie sich vorstellen. Ich kann mich in diese Foto-Vision von Elisabeth Ohlson nicht hineinversetzen. Die Leder- und SM-Szene ist mir fremd. Mir ist die Vision zu irdisch, ich fühle mich zu bedrängt von dieser Exklusivität. Ich kenne die Menschen auf diesem Bild nicht, habe keine Beziehung zu ihnen. Wenn ich sie kennen würde, dann wäre das vielleicht anders. Ich stehe eben nur vor einem Bild, dem Bild einer Vision, die andere haben. Es ist ihre Vision davon, wie sich die Welt Gottes ankündigt. Ich bin interessierter, aber letztlich distanzierter Betrachter.
Das ist anders bei der ersten, der Familien-Skulptur. Ich denke an den 9-jährigen Jungen, an die so häufig anzutreffende tragische Realität menschlicher Beziehungen, ihre Gebrochenheiten, Zurückweisungen und Verletzungen. Diese Skulptur berührte mich. Hier spüre ich einer mir aus meiner Arbeit als Familienhelfer bekannten Realität nach.
Ich stelle mir eine Vision vor: Ich stelle mir vor, wie diese Familie, Mutter, Tochter und Sohn, um diesen verklärten Jesus herum stehen, sitzen, knien würden. Geborgen, getröstet, beruhigt, versöhnt? In dieser Vision der Skulptur bräuchte ich mich nicht neben den Jungen stellen, er wäre dort gesegnet und gestärkt.
Unser Leben, sei es das Leben homosexueller Frauen und Männer, mit all den ihnen entgegengebrachten Ressentiments und Aggressionen, mit all ihren besonderen Lebensregeln etwa in der SM-Szene, oder sei es das Leben von Familien, mit ihren alltäglichen Nöten und Gebrochenheiten, die wohl ausnahmslos auch für Homosexuelle gelten: Überall ereignet sich Realität, täglich, andauernd. Doch es ereignen sich auch Visionen, die tatsächlichen oder die tags oder nachts geträumten Bilder des Gesegnet-Seins, des Geborgen-Seins, des Glücklich-Seins. Sie kommen einem in den Sinn, manche behält man für sich, manche werden Gestalt, so wie Foto-Visionen von Elisabeth Ohlson. Oft sind diese Visionen nur Momente in unserem Alltag, in unserem Leben. Ihre Konturen lösen sich nur allzu schnell wieder in den Schatten des Alltags auf. Aber wir können diese Visionen in uns bewahren so wie einst fotografierte Familienbilder: als Skulpturen, als eingefrorene Visionen tiefster Zufriedenheit und Versöhntheit. Die Realität des Alltags hinterläßt viele Verletzungen und Narben in uns - unsere Visionen von Versöhntheit hinterlassen Spuren und Ahnungen vom Heil-Werden in uns. Wehe, dem, der den Menschen solche Visionen nimmt, denn sie sind ein Stück der Welt Gottes auf Erden.
AMEN.

 

Zurück zum Verzeichnis der ECCE HOMO Predigten.