Mauricio Kagel: "Halleluja"

Ein Film von 1967/69

Mauricio Kagel, 1931 in Buenos Aires geboren, erhielt seine musikalische Ausbildung durch Privatunterricht und studierte Literatur und Philosophie. 1957 siedelte Kagel nach Köln um. Seit 1950 komponiert Kagel Werke unterschiedlichster Art, er gehört zu den herausragenden Gestalten der Neuen Musik.
In Südamerika lernte Kagel die ganze Breite europäischer Musik kennen, aber eben als kommerzielle, importierte Kunst, die man nicht so einfach hinnimmt, wie die heimische. So erkannte er früh die Mängel dieser Kultur und wies in seinen Werken auf sie hin. Früh wandte er sich den Außenseitern unserer Musikkultur zu, so z.B. Satie, Ives, Cage und dem lange abgelehnten Mahler.
Kagel hat wenig Drang zum Positiven, er stellt es im Negativ dar, hat eine Affinität zum Unteren, Geräusche, menschliche Laute, unreine Klänge sind wesentlicher Bestandteil seiner Musik.
In den 60er Jahren begann Kagel einige seiner Werke zu verfilmen. Der vielleicht komplizierteste, am genauesten durchkomponierte Film ist Halleluja aus den Jahren 1967 bis 1969.
In Halleluja verarbeitet Kagel drei seiner Kompositionen, die ich im folgenden kurz beschreiben möchte, auch wenn sie im Film teilweise wieder untergehen, bzw. im Verlauf schwer zu erkennen sind.
1) "Improvisation ajoutée" für Orgel, einen Organisten und zwei Registranten aus dem Jahr 1962.
Die Aufteilung auf drei Spieler bringt Unvorhergesehenes in die Klangfolgen, die Handlungen des Organisten und der Registranten überlagern und beeinflussen sich. Der Organist kann sich noch so vehement in die Tasten werfen, wenn kein Register eingeschaltet ist, erklingen nur klappernde Geräusche der Mechanik. Meist ist ein Part genau auskomponiert, während der andere mit allgemeinen Anweisungen auskommen muß; z.B. GA = große Aktivität für den Organisten. Die Klänge werden durch Pfeifen, Singen, Husten, Klatschen, Sprechen, Lachen und Schreien erweitert.
Kagel schreibt von einem "teuflischen Stück, in dem zwei Registranten das königliche Blabla durch bis zu 10 Klangfarbenänderungen pro Sekunde zerstören."
Improvisation ajoutée ist ein Stück, das zu laut ist, ein starkes Stück. Der komplizierte Formverlauf schließt mit einem gesprochenen "Ende", gleichzeitig geheimes Thema und geheimer Titel des Werkes, das nach Dieter Schnebel etwas vom apokalyptischen Schrecken, den Menschen mittlerweile zu bereiten wissen, registriert.
2) "Phantasie für Orgel mit Obbligati." (1967)
Kagels zweites Orgelstück und gleichzeitig zweite Zutat zum Film Halleluja hat mit der düsteren Klangwelt des ersten wenig gemein. Auch in diesem Werk wird der Orgel etwas Fremdes, in diesem Fall die "Obbligati" beigegeben. Diese bestehen aus zwei Tonbändern, die der Organist selbst herzustellen hat, da sie die Akustik seines Lebens widerspiegeln. Der grobe Ablauf der Bänder ist folgender:
Regen, Hagel, Wind, laufendes Wasser, Papiergeraschel, Toilettenspülung, Eieruhr, Toaster, Radio, Parkatmosphäre, U-Bahn, Glocken, Schritte zur Orgel, Auschnitte aus Taufe, Trauung und Beerdigung.
Dazu gesellt sich ergänzend und kommentierend die Orgel in immer neuen Variationen. Am Schluß des Werkes laufen die Tonbänder automatisch zu Ende, letzte Töne werden vom Assistenten gespielt und der Organist "geht ohne Schuhe langsam mit gesenktem Haupt den Mittelgang bis zur vorderen Bankreihe, wo er Platz nimmt".
3) "Halleluja" für Stimmen.(1967/68)
Nach der Uraufführung in Stuttgart begrüßte man den Komponisten, als er den Applaus entgegennahm mit allerlei improvisierten Lauten: Heulen, Singen, mit der Hand auf den Mund schlagen u.s.w.
Halleluja besteht aus 16 Solopartien, die alle unabhängig voneinander gestaltet werden. Jeder Solist kann seine Musik sehr frei gestalten, wenn sie auch manchmal extrem genau, ja unausführbar kompliziert notiert ist. Aber nach jedem Takt heißt es auf den Dirigenten warten. Acht Tuttiabschnitte gliedern das Werk, in dem sonst der Einzelstimme viel Raum zusteht. Vielerlei stimmliche Aktionen erweitern den normalen Gesang. In diesem Zusammenhang wirken selbst Etüden oder Tonleitern wie Sprachstörungen. Alles ist übertrieben: Lautstärken, Größe der Sprünge, Schwierigkeiten. Zu den Texten schreibt Kagel: "Es wird vorwiegend in einer Art vielversprechendem Küchenlatein gesungen; eine quasi Sprache, die frei zusammengestellt wurde. Lateinähnliche Wörter kommen häufig vor sowie zungenschwere Latinismen, liturgische Sprachstörungen, sinnentstellende Deklamationen und verschwommene Ausdrücke der Fachtheologie. Dieses lateinische Kauderwelsch steht für eine erhabene Sprache ebenso stellvertretend wie das Wort Halleluja für das eigentlich Unaussprechbare, für das unausgesprochene Lob".

Der Film "Halleluja".
Schon der Vorspann erfüllt wenig von den Erwartungen, die der Titel des Films weckt; er ist überschrieben: "Vermittlung der für den Sänger notwendigen Kenntnisse über seinen Gesangsapparat zum Zwecke der Selbstbeobachtung". Hier zeigt sich gleich eines der Grundlegenden Prinzipien des Films: Bild und Ton werden in immer neue Beziehungen gesetzt, Assoziationen, die aus den Worten hervorzukriechen scheinen, werden im Bild plötzlich materialisiert. Das führt zu ungewöhnlichen, humorvollen Kombinationen:
2. Groß: Gummibänder, an einer Handtrommel befestigt, werden gezupft
3. Totale: übergroßer Schwamm
4. Sehr groß: Obstkorb
5. Halbtotale: dunkler Luftballon wird gedrückt
6. Sehr groß: Im Inneren eines ringgegliederten Staubsaugerschlauches
7. Totale: alter Stuhl
u.s.w.

Wenn von den Stellungen der Zunge die Rede ist, wird eine Kalbszunge auf einer Glasplatte vorgeführt, auch der Fleischbeschauerstempel und die Stubenfliege dürfen natürlich nicht fehlen. In einem späteren Abschnitt des Films über Schäden der Stimme wird dieselbe Zunge dann nach einem Durchschuß und auch abgeschnitten gezeigt; die Phantasie des Komponisten und Regisseurs verläßt das "normale" Maß. Ekel angesichts dieser - in diesem Fall durch Militär hervorgerufenen - Verstümmelungen ist die (wohl auch beabsichtigte) Folge. So wird der ein wenig ulkige Filmabschnitt über Stimmschäden beim Militär plötzlich in eine schockierende Realität zurückgeholt.
Das musikalische Ausgangsmaterial des Films wird von Prof. Gerd Zacher (Köln), der Schola Cantorum Stuttgart (Ltg. Clytus Gottwald) und dem Zürcher Kammersprechchor (Ltg. Ellen Widmann und Fred Barth) gestaltet. Drehorte sind die Pauluskirche in Stuttgart und das Volkshaus in Zürich.
Die Kompositionen werden in diferenzierter Weise miteinander verwoben, durch Schnitte werden neue Zusammenhänge geschaffen, ja der Gesamtablauf ist eine komplizierte Komposition, deren Ausführung bei den am Anfang genannten Beispielen noch einfach und durchschaubar ist, dann aber oftmals ein häufiges Sehen des Films erfordern würde, um ungefähr mitzubekommen, was da alles passiert und wie es verbunden ist.

Allerdings gibt es auch durchgehende Handlungsabläufe, die sich durch Schnitte nicht zerstören lassen.
Der erste davon sind die Obbligati der Phantasie für Orgel, die Szenen aus dem Leben des Organisten, die hier auch im Bild wiedergegeben sind. Dabei werden natürlich die Möglichkeiten des Filmschnitts wieder ausgenutzt; auf das Betätigen der Klospülung folgt nicht das bekannte Geräusch, sondern die Orgel spielt in Ton und Bild...
Die zweite Handlung, die sich durch den ganzen Film zieht, ist "Aus meinen Erinnerungen"; ein Sprecher erzählt von der Behandlung stimmkranker Uniformierter. Dabei werden wieder Bild und Ton in neue Verbindungen gebracht, wenn beispielsweise davon die Rede ist, daß einem Kranken die Mandeln herausgenommen werden, sieht man, wie aus einem weit geöffneten Mund zwei Mandelnüsse herausgeholt und mit lautem Geräusch in eine Schale gelegt werden.
Bei der weiteren Beschreibung wird erwähnt, daß die Lautfolge "a e u i a " längere Zeit gebraucht hat, bis sie gemerkt wurde, der Chor fällt ein: "Halleluja" (fast "aeuia" gesprochen).
Eine weitere Sequenz sind die Teile des Chorwerks Halleluja, die von der Schola Cantorum in verschiedenster Form dargeboten werden. Die Tutti-Teile wandeln sich vom Aufstand gegen den Chorleiter bis zu frommem Verhalten. Ein Protestchor des Sprechchores (raus, los, nein...) entwickelt sich bis zum Schluß des Films zu einem Durcheinander von wandernden Stühlen.
Diese längeren Verläufe werden durch einige kurze ergänzt. Die vokalen Zutaten zum ersten Orgelstück sind zu drei kurzen Chorstücken geworden, Aufnahmen von Tieren und Imitationen von Tierlauten setzen die statische Kalbszunge aus der ersten Sequenz quasi animiert fort. Andere Stellen werden erst durch Schnitte zu einem aus Einzelteilen seriell komponierten Ganzen, am deutlichsten bei der Einbindung von 144 Einzelaufnahmen von Köpfen der Beteiligten.

Bild und Ton werden in unterschiedlichste Beziehungen gesetzt. Am Anfang bilden die Bilder Assoziationen zum Text. In der folgenden Sequenz mit Tierlauten (Imitationen) werden künstliche Laute in künstliche Bilder implantiert, fremde Zusammenhänge geschaffen. Bei der Verfilmung des Lebens des Organisten sind Bild und Ton synchron, alles ist bekannt und gewohnt, bis auf die durch Schnitte hergestellten Verbindungen. Auch die Beschreibung der Stimmschäden scheint mit dem richtigen Ton versehen, doch sind die dargebotenen Laute höchst artifiziell entstanden, von Schaden keine Spur. Zum Schluß des Films laufen Bild und Ton immer mehr auseinander, allerdings scheinen sich die Bilder rhythmisch nach dem Ton zu richten.

Diese für einen 46minütigen Film vielen Sequenzen werden wie erwähnt durch viele Schnitte in immer neue, zum Teil unklare, verwischende Zusammenhänge gebracht. Jede Möglichkeit der Verunklarung scheint ausgenutzt. So erscheint z.B. jeder der 45 Sänger mindestens dreimal in einer Solopartie und trägt dabei jeweils eine andere Maske. Die teilweise nur 1 Sekunde dauernden Schnitte lassen Bilder aufeinanderprallen, aber auch ineinanderübergehen. Täuschend ähnliche, aber in Wirklichkeit sehr unterschiedliche Szenen ergeben im Kopf des Zuschauers eine neue Handlung, Überblendung findet oft eher beim Zuschauer als im Film statt.

Halleluja ist durch die strenge Durchkomposition vielleicht ein "Film im strengen Satz". Aber durch die zu große Komplexität verwischen sich die Spuren wieder, im Zuschauer selbst entsteht etwas Neues. Entsprechend sagt der Komponist zu seinem Film:
"Halleluja ist eine visuelle Komposition über die Prämissen einer möglichen Handlung. Dazu: vorbildliches Singen und minderwertige Alltagsgeräusche, Bilder mit falscher Inhaltsangabe und empfehlenswerte liturgische Sitten, der blanke Glaube als Mittelpunkt des Ungewissen, die Komik einer Musik in Großaufnahme, die Wirklichkeit als akustisches Paradoxon, das Phantastische im Dauerzustand".
Der Komponist Dieter Schnebel, dessen Ausführungen zu Mauricio Kagel mir hier zu vielem als Vorlage gedient haben, schreibt zu "Halleluja":
"Indem der Film aus real komponierter Strenge ins Irreale ausschweift, wird er zum Halleluja. Ist dies ausbrechender, vagierender Gesang, so erfaßt es im Film alle Komponenten - ein Halleluja, das sich enthusiastisch in alle möglichen akustischen und optischen Momente entfaltet; aber auch, weils zum Lobgesang keine hinreichenden Gründe gibt, sich schließlich wieder melancholisch verkriecht."

[Ingo Schulz]

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